Die Belagerung von
Ottenstein
(Autor unbekannt)
Vor Ottenstein, der
Feste, der Bischof Otto lag,
er hielt sie eingeschlossen, wohl über Jahr und Tag.
Er ließ aus ihren Toren nicht Mann noch Weib entfliehen
und ließ in ihre Tore nicht Ross und Wagen ziehn.
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In Ottenstein, der Feste, da
herrschte bittre Not;
auf Wall und Straßen wandeln der Hunger und der Tod,
und wie sie fürbaß schreiten, manch Aug´ in Qualen bricht;
die Bürger stehn in Treue, die Herzen wanken nicht.
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Tief ist bekümmert Heinrich von
Solms, der edle Graf
ob allem, so die Seinen um seinetwillen traf;
die Tore wollt´ er öffnen, bevor die Sonne sank,
wenn seine Tochter zöge von dannen frei und frank.
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Ins Zelt des Feldherrn schreitet
alsbald des Herolds Fuß;
"Der Graf von Solms entbietet dem Bischof seinen Gruß!
Es jammert ihn des Volkes, ergeben soll sich Euch
die Feste samt der Mannschaft und allem Kriegeszeug!
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Ein einziges Bedingnis stellt Euch
der Graf dabei:
dass seine Tochter ziehe von dannen frank und frei
mit dem, was an Kleinodien sie teuer hält und wert,
entscheidet, ob´s genehm ist, entscheide sonst das Schwert!"
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Der Bischof lächelt grimmig, bald
kühlt er alten Groll:
"Wenn bis zur Mittagsstunde das Tor sich öffnen soll,
dann mag die Jungfrau wandeln hinweg aus unserm Bann
mit allen ihren Schätzen, so viel sie tragen kann."
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Und kürzer fällt der Schatten,
das Heer steht hart am Wall:
zum Einzug oder Stürmen ruft heller Trommelschall,
und ungeduldig schmettern Trompetenstöße drein,
da schlägt´s die zwölfte Stunde vom Turm zu Ottenstein.
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Da klirren rost´ge Nägel, weit
tut sich auf das Tor,
und schüchtern tritt und zage die zarte Maid hervor;
das wilde Kriegsvolk staunet der Reichbelad´nen dort:
sie trägt auf ihren Schultern den greisen Vater fort.
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